Samstag, 26. Dezember 2015

Betriebsführung bei Amazon Koblenz

Ein paar Wochen vor Weihnachten habe ich die Gelegenheit, das Amazon Logistikzentrum in Koblenz, erbaut im Jahr 2012, zu besichtigen. Das Koblenzer ist eines von insgesamt neun Logistikzentren in Deutschland und verfügt, wie die meisten Standorte, über 110.000 Quadratmeter Lagerfläche – das entspricht rund 17 Fußballfeldern. Amazon Koblenz gilt als einer der größten Arbeitgeber in der Region und wurde von der Agentur für Arbeit mit dem „Zukunftszertifikat 2014“ ausgezeichnet.


Rund 1.200 fest, plus 500 befristet beschäftigte Logistik-Mitarbeiter sorgen hier dafür, dass Bestellungen schnellstmöglich den Kunden erreichen. Zahlreiche Produkte werden Premium-Mitgliedern bei Bedarf sogar schon am Tag der Bestellung zugestellt. Für das Weihnachtsgeschäft werden in Koblenz zusätzlich 1.600 Saisonkräfte mit bis Ende des Jahres befristeten Verträgen als Verstärkung eingestellt. In den Einstiegspositionen als Receiver, Picker oder Packer (Warenannahme, Kommissionierung, Verpackung) soll nach Einarbeitung jeder neue Mitarbeiter angeblich spätestens nach vier Tagen fit für die zu verrichtende Arbeit sein. Mit dem um das Doppelte erhöhten Personalbudget will Amazon in Deutschland den für dieses Jahr erwarteten Rekordumsatz im Weihnachtsgeschäft stemmen. Weltweit werden für die Zeit Umsätze zwischen 33,5 und 36,7 Milliarden US-Dollar erwartet, für das Jahr wären es dann über einhundert Milliarden US-Dollar. Als ich später zu Hause diese Zahlen nenne, wird mir zunächst ein Hörfehler unterstellt, denn der Betrag erscheint einfach unglaublich.
Das Unternehmen, das für sich als „fairer Arbeitgeber“ wirbt, bietet seinen, auf dieses Milliardenziel hinarbeitenden Mitarbeitern zwar keine Tarifverträge, wie es in Deutschland die Gewerkschaft ver.di fordert und mit wiederholten Streikaufrufen zu realisieren sucht. Aber es bietet mindestens zehn Euro brutto pro Stunde. Schon im zweiten Beschäftigungs-Jahr verdient jeder Mitarbeiter in Koblenz umgerechnet mindestens 11,64 Euro brutto pro Stunde, wie Amazon informiert. Das so genannte Lohnpaket beinhaltet unter anderem Bonus- und Sonderzahlungen, Mitarbeiteraktien, Überstunden- und andere Zuschläge. Darüber hinaus präsentiert sich Amazon als attraktiver Arbeitgeber durch das „Career Choice“-Förderprogramm, mit dem es bis zu vier Jahre lang die berufliche Weiterbildung seiner Mitarbeiter unterstützt. 95 Prozent der Aus- und Fortbildungs-Kosten, maximal 8.000 Euro pro Mitarbeiter, übernimmt Amazon. Weltweit haben sich 183.000 Menschen für die Mitarbeit bei dem Online-Händler entschieden, wie das Unternehmen mit Stand Juni 2015 meldet. Amazon macht nicht nur als Arbeitgeber, sondern unter dem Motto „Amazon gemeinsam“ zusätzlich durch ein vielschichtiges soziales Engagement von sich reden. Es unterstützt gemeinnützige Organisationen mit Sach- und Geldspenden, engagiert sich für die Förderung der Lese- und Schreibkompetenz und aktuell auch in der Flüchtlingshilfe. An einer sehr praktischen Form von „Flüchtlingshilfe“ wird derzeit in Koblenz gearbeitet. In enger Zusammenarbeit mit Caritas und Agentur für Arbeit werde geprüft, zumindest für das Weihnachtsgeschäft dreißig Flüchtlinge zu beschäftigen. Das könnte für sie ein erster Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt sein. Menschen mit Migrationshintergrund zu beschäftigen, ist für Amazon keine Ausnahmesituation. Durch jahrelange und vielzählige Beschäftigung von aus hundert Nationen kommenden Mitarbeitern in Deutschland hat das Unternehmen große Erfahrung in Sachen Integration. Ich höre, dass auch Schwerbehinderte und Langzeitarbeitslose bei Amazon als Arbeitskräfte gut integriert sind. Wer bei Amazon arbeiten will, braucht wenigstens deutsche oder englische Sprachkenntnisse und muss die lateinische Schrift lesen können. Nur so können die zig Anweisungen und Sicherheitshinweise, die im gesamten Logistikzentrum ausgehängt sind, verstanden werden. Anweisungen und Hinweise, die auch der Sicherheit und Gesundheit der Mitarbeiter dienen. Beides hat höchste Priorität, wie es in der Amazon-Imagebroschüre nicht nur nachzulesen, sondern bei der Betriebsbesichtigung real feststellbar ist. „18 Tage seit dem letzten Arbeitsunfall“ steht zum Beispiel auf einer Anzeigetafel in der Eingangshalle. Von hier aus hat man Einblick in den Kantinenbereich und die „Chill-Ecke“ mit Tischtennisplatten und Kicker-Spielen. Nach dem Passieren der Personen-Schleusen, die ähnlich wie an den Flughäfen funktionieren sollen, uns Gäste aber unkontrolliert passieren lassen, gelangt man in den „Receive“, den Wareneingang, wo jeder angelieferte Artikel elektronisch erfasst und in das System eingepflegt wird. Obwohl bei Amazon derzeit, wie in jedem Jahr zwischen Oktober und Dezember, Hochbetrieb herrscht, denn das Weihnachtsgeschäft läuft auf vollen Touren, ist keine Hektik feststellbar. Gestresste Mitarbeiter - Fehlanzeige. Komisch. Ich schaue mich in der riesigen Halle um und entdecke an den Wänden, offenbar als Motivationsschub zu verstehen, Informationen darüber, was das Unternehmen zusammen mit seinen Beschäftigten in bestimmten Zeiträumen geleistet und erreicht hat. Auf einem der Schilder ist als Rekordleistung in Koblenz der Versand von 507.000 Einheiten an einem Tag angegeben.

Im Gegenzug gibt es im Scannerakku-Aufladeraum Schriftbänder mit lobenden Sprüchen der Beschäftigten für ihren Arbeitgeber. „Ich finde die Arbeit hier richtig super“ oder „Die Arbeit ist einfach und macht Spaß“, lese ich.

Während der Führung, die seit Juni dieses Jahres als Besichtigungstour für die breite Öffentlichkeit angeboten wird, wird der gesamte Prozess erklärt, den die Waren bis zu ihrem Versand durchlaufen. Da erfährt man beispielsweise, dass die Einlagerung der Ware nach dem „System der chaotischen Lagerhaltung“ erfolgt,

also einzulagernde Ware immer da positioniert wird, wo gerade Platz ist. Ha, was bei Amazon funktioniert, sollte doch auch in meinem Haushalt funktionieren. Doch der beste aller Ehemänner beschimpft mich ständig für meine chaotische Lagerhaltung in den Schränken. Vielleicht wäre er heute besser mal mitgekommen. Damit die Dinge wiedergefunden werden können, muss ich natürlich manchmal etwas länger suchen. Bei Amazon werden Föhn, Buch und Creme nicht gesucht, sondern gefunden. Ein Handscanner macht es möglich. Mit ihm erfolgt eine gewissenhafte „Verheiratung“ von Artikel und Barcode des Lager-Faches.


Interessant ist, dass nicht an allen Logistikstandorten das gleiche Warensortiment eingelagert ist. Deshalb müssen zur Erfüllung mancher Kundenbestellungen die einzelnen Artikel von verschiedenen Standorten zusammengeführt werden. Von Koblenz aus werden auch Drogerieartikel und haltbare Lebensmittel, Weine und Spirituosen verschickt - das ist nur bei wenigen anderen Standorten der Fall. Sogar regionale Produkte, wie Gin aus der Eifel, finden sich im Sortiment, wie wir uns selbst überzeugen dürfen. Um den Mitarbeitern die Arbeit zu erleichtern, ihre Wegstrecken zu minimieren, führte Amazon in diesem Jahr, nachdem es im Jahr 2012 „Kiva Robotics“ übernommen hatte, erstmalig an einem Standort in Polen ein computergesteuertes Transportsystem ein. Wann das System in Deutschland startet, ist noch nicht bekannt, wie uns gesagt wird. Im gleichen Atemzug wird versichert, dass diese Technisierung keinesfalls zu einem Mitarbeiter-Ersatz führen werde. Ich frage mich, was passiert, wenn Amazon weiterhin so stark expandiert. 2014 gab es immerhin schon 109 Logistikzentren weltweit. Fünf Jahre zuvor waren es noch 39. Irgendwann wird es wohl außerirdische Standorte geben. Gründer Jeff Bezos scheint die erste Hürde dafür gerade genommen zu haben. Als angehender Raumfahrt-Unternehmer brachte er bei einem Testflug jetzt schon mal eine unbemannte Raumkapsel und die wiederverwendbare Trägerrakete sicher zur Erde zurück.

Freitag, 11. Dezember 2015

Burg Lahneck - ein schönes Ausflugsziel mit spannender Geschichte

Burg Lahneck, 164 Meter ü.NN. auf einem steilen Felssporn errichtet, gilt als Wahrzeichen der Stadt Lahnstein. 


Um so betrüblicher war es, dass die neunköpfige Erbengemeinschaft sie in diesem Jahr viele Monate lang nicht für Besucher öffnete - zum ersten Mal seit mehr als achtzig Jahren. Seit Robert Mischke, Vizeadmiral der kaiserlichen Marine die Burg im Jahr 1909 erwarb, ist sie im Besitz der Familie. Im September 2015 wurde der Führungsbetrieb erfreulicherweise wieder aufgenommen und wird ab Ostern 2016 seinen gewohnten Gang nehmen. Einer der rund zehn Burgführer ist Stefan Nürnberger. 


Nach einer Einführung durch erfahrene Burgführer-Kollegen und mit viel „learning by doing“ ist er, wie er mir erzählt, nach neun Jahren in diesem „Job“ mit einem Rundum-Wissen über die Burg und ihre Geschichte ausgestattet. Bevor die Burg sich von November bis März in den Winterschlaf begibt, zeigt er mir bei einem informativen Rundgang noch einmal Burgküche, Burgkapelle, Rittersaal, Ausstellungsräume und Bergfried. Statt allzu vieler Jahreszahlen lerne ich von ihm mehr über die Besonderheiten der Räume und von mancher der vielen im Mittelalter entstandenen Redensarten. Doch ganz ohne Jahreszahlen lässt er mich nicht davonkommen. Wann genau die Burg erbaut wurde, ist nicht erwiesen, aber es gibt Anhaltspunkte, dass es schon um 1226 geschah. Sie diente als Schutzburg für die umliegenden, im Besitz des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten Siegfried von Eppstein befindlichen Gebiete. Nach Verwüstungen, die die Burg im 30-jährigen Krieg (wahrscheinlich im Dezember 1936) durch schwedische Truppen erfahren musste, und nachdem die letzten noch stehenden Dächer von französischen Truppen 1688 im Pfälzischen Erbfolgekrieg in Brand geschossen wurden, war sie nur noch eine Ruine und diente als Steinbruch. Erst mit dem Jahr 1803 begann eine neue Ära. Im Zuge der Säkularisation des Erzbistums Mainz ging die Burg an das Herzogtum Nassau über. Somit wurde aus Kirchenbesitz Privatbesitz. Mitte des 19. Jahrhunderts erwarb der schottische Eisenbahnunternehmer Edward A. Moriarty die Ruine von der Familie Lassaulx und begann, die Burg im Stile der englischen Neugotik wieder aufzubauen. Die Arbeiten wurden von seinem Nachfolger Gustav Göde abgeschlossen. Die nachfolgenden Besitzer gestalteten die Anlage durch verschiedene Um- und Aufbauten immer wieder um. Der einstige Wehrbau verwandelte sich in eine Wohnburg, in der in Teilbereichen sogar bis vor wenigen Wochen noch gewohnt wurde.
Dem Geschichts-Exkurs folgt endlich die eigentliche Führung. Nach dem Durchschreiten des Burgtors stehen wir im Burghof.


Die Tür auf der rechten Seite schließt Nürnberger mit dem imposanten Burgschlüssel auf. Dahinter liegt die mit Natursteinboden ausgestattete Burgküche. Nicht nur aus praktischen, sondern vermutlich auch aus taktischen Gründen soll der Brunnen, der heute noch Wasser führt, in der Küche angelegt worden sein. Auf diese Weise konnte das Brunnenwassers zumindest von außen nicht vergiftet werden. Eines der um den Ofenplatz ausgestellten Kleinteile ist ein hölzernes Joch. Nürnberger führt mir vor, was es wörtlich bedeutet, „ein schweres Joch zu tragen“. 


Noch schnell ein Gruß zum Leuchterweibchen, das nach Nürnberger allerdings ein -männchen ist. 

Nun, ja. Das ist wohl Ansichtssache. Die hölzerne Figur wacht an der Spitze des aus Geweihstangen gefertigten Kronleuchters. Dann muss mein Führer „einen Zahn zulegen“. Im Mittelalter bedeutete das, den Topf näher an das Feuer zu bringen. Doch heute bedeutet es, sich zu sputen, denn eine weitere Besucher-Gruppe ist uns bereits auf den Fersen. Beim Weitergehen kommen wir an einigen Folterwerkzeugen vorbei und erreichen dann die auf das Jahr 1226 zurückgehende, dem Heiligen Ulrich geweihte gotische Burgkapelle, 15 Meter lang, 8 Meter breit. Der hohe Raum besticht durch bleiverglaste Fenster mit Glasmalereien und den in Rautenform verlegten, mehrfarbigen Lahnmarmor-Boden.


An manchen Stellen hat der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen. Als Hingucker ist im Chorbereich eine Luther-Bibel aus dem Jahr 1712 ausgestellt. Ebenso beeindruckend ist das Hungertuch aus dem Jahr 1513. Die großformatigen Gemälde an den Wänden hier, wie im übrigen Burgbereich, entstammen der familieneigenen Kunstsammlung, wie Nürnberger ausführt.

Ich entdecke eine in der Kapelle aufgestellte Schatzkiste und will natürlich wissen, was es mit ihr auf sich hat. Nürnberger öffnet die mit elf Riegeln und einem Geheimschloss gesicherte Truhe, deren Besitzer offenbar „auf den Hund gekommen“ war, denn nur einige wenige Geldstücke bedecken noch den Grund. Schade. 

Weiter geht es in den Rittersaal, wo vor einem riesigen, aus flämischer Produktion stammenden Wandgobelin, dessen Farben ihre ursprüngliche Leuchtkraft im Laufe der Zeit erheblich einbüßten, zwei Rüstungen ausgestellt sind. Besonders bei den speziellen Kinderführungen erfreuen sie sich großer Beliebtheit, zumal sie angefasst und die separat ausgelegten Helme sogar aufgezogen werden dürfen. Ich habe mich jetzt nicht getraut, zu fragen, ob der liebe Herr Nürnberger mal ein Foto von mir mit Helm schießen würde. Auch die Waffen, wie zum Beispiel der als Schlagwaffe eingesetzte Morgenstern, faszinieren (nicht nur ) kleine Ritter. Nach Verlassen des Saales müssen sich die Besucher normalerweise zunächst einmal die eigens dafür ausgelegten Filzpantoffeln überziehen, denn der Parkettboden der folgenden Räume verträgt den Tritt von hartem Schuhwerk nicht. Ich darf heute ausnahmsweise mal mit meinen Straßenschuhen drüber laufen - und tue das gaaaanz vorsichtig. Die Ausstellungsräume zeigen eine bunte Sammlung an Mobiliar und Gebrauchsgegenständen, die die Wohnkultur des 17. bis 19. Jahrhunderts widerspiegeln.


„Anno 1700“ ist auf der Frontplatte eines aus Grauguss gefertigten Beileger-Ofens eingraviert. Ein Ofen, der gleichzeitig zwei Räume beheizt hat. Aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt das mit einem aufwändigen Rahmen bestückte, Königin Victoria darstellende Gemälde. 

Sehenswert sind zudem die Sitzecke, auf deren Tisch stets eine Vase mit frischen Blumen steht, die mit Seidentapeten oder in Schablonentechnik verzierten Wände, Echtkristall-Leuchter, Nähkästchen und Aussteuer-Truhen. 

Ein echtes Schmuckstück ist das 150 Jahre alte Puppenhaus mit einer detailverliebten Ausstattung in allen acht Zimmern. Ach, wie sehr hatte ich als kleines Mädchen von einem solchen Haus geträumt! In einem der Ausstellungsräume befindet sich ein, mit einem Gitter überdecktes Loch im Boden. Hierdurch flüchtete schon so mancher in den Keller.


Nürnberger bietet mir einen Abstieg in die Unterwelt an, doch in Anbetracht der vielen Spinnenweben verzichte ich lieber. So geht die Führung geradewegs in eine andere Richtung - nämlich hoch hinauf. Eine schmale Wendeltreppe führt auf den dreißig Meter hohen, fünfeckigen Bergfried. Bei rund 15.000 Besuchern pro Jahr lasse sich auf Burg Lahneck, im Gegensatz zu den meisten anderen Burgen der Region, der Auf- und Abstieg gefahrlos ermöglichen. Viele, die es im Verlauf der Jahre wenigstens in das erste Zwischengeschoss geschafft haben, hatten offenbar das Bedürfnis, sich hier zu verewigen. Die Wände sind bekritzelt mit Namen und Sprüchen. Ich nutze das Lesen der Texte als Vorwand für eine Verschnaufpause, denn ich bin jetzt schon ganz gehörig außer Atem, was ich natürlich keinesfalls zugeben werde. 


Die Kletterpartie geht weiter hinauf, bis wir schließlich die oberste Plattform erreichen, auf der die rot-weiße Burgfahne im Wind weht. Die Aussicht über das Lahntal ist grandios. Ich bin einen Moment lang sprachlos, nicht nur, weil mir noch die Luft zum Sprechen fehlt. Leider haben wir keine Zeit, hier länger zu verweilen. Die Führung ist zu Ende. 


Doch zum Trost wartet in der vor der Burg gelegenen, frisch renovierten Burgschenke Pächter Ventsislav Pehlivanov mit frisch gebackenem Apfel- und Käsekuchen auf uns. Der Espresso geht aufs Haus. Das ist wirklich nett. Und ich verspreche, im nächsten Jahr wiederzukommen, wenn die Terrasse geöffnet ist. Dann werde ich auch mal kosten, was der Wirt so aus der Küche herauszaubert. 

Unterwegs im Stromerwald

Ein vierköpfiges Team des Forstamtes Lahnstein steht am frühen Morgen bereit, als ich zu der für mich sehr unwirtlichen Zeit am Forstamt ankomme. Gemeinsam warten wir auf die ersten Besucher des Tages. Die 15-köpfige „Fuchs“-Gruppe der KiTa St. Barbara ist mit ihren Erzieherinnen hergekommen, um den „Stromerwald“ zu erkunden, der um das Forstamt herum angelegt ist. Hier von „Wald“ zu sprechen, ist eigentlich übertrieben, denn das parallel zur Lahn gelegene, naturbelassene Gelände macht mit vereinzelten Bäumen und Sträuchern auf mich einen eher parkähnlichen Eindruck. Ich erfahre, dass „Stromerwald Lahnstein“ ein Gemeinschaftsprojekt von Stadt Lahnstein und Landesforsten ist, das gerade sein zehnjähriges erfolgreiches Bestehen feiern konnte. „Stromerwald“ heißt es wegen der Nähe zum Strom (die Lahn) und weil sich das große Forstamts-Grundstück zum Stromern geradezu anbietet. Dazu lädt das Forstamt Lahnstein alle Kinder vom Vorschulalter bis zu den ersten beiden Grundschuljahren unter pädagogischer Betreuung ein. Glücklich die Erwachsenen, die sie begleiten dürfen! Mit allen Sinnen sollen die Kinder den „Stromerwald“ erfahren, die Natur spielerisch und emotional entdecken. Außer auf Pirschpfad und Kletterbaum können weitere Abenteuer zum Beispiel auf Barfußpfad und Piratenschiff bestanden werden. Das vom Forstamt erbrachte Waldpädagogik-Gesamtpaket „Stromerwald“ und „Schulwald“ (im Staatswald des Forstamtes angelegt) haben bislang mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche angenommen. Höhepunkt sind immer wieder die für die 3. Grundschulklassen veranstalteten Waldjugendspiele.

Im „Stromerwald“ wird sich heute die „Fuchs“-Gruppe beim Baumklettern ins Zeug legen und auf den Pirschpfad begeben. Zu Beginn bittet Dieter Bielicki, Produktleiter Umweltbildung am Forstamt, Kinder und Erwachsene, sich für das Begrüßungsritual an den Händen haltend im Kreis aufzustellen. Ich bin Teil des Kreises und spüre, wie sich die kleinen Händchen vertrauensvoll in meine legen und bin ganz gerührt. Jetzt wird die Gruppe aufgeteilt in Kletterer und Pirscher. Nach jeweils bestandenem Abenteuer sollen die Rollen getauscht werden. Am liebsten möchten alle, ob vier oder sechs Jahre alt, als erstes klettern, denn das erscheint besonders spannend. Mich fragt leider niemand, ob ich auch mal klettern möchte. Bestimmt hundert Meter hoch sei der Baum, meint eines der Kinder. Victoria Mayer, die sich derzeit in Ausbildung zur zertifizierten Waldpädagogin befindet, legt den ersten Kindern die Klettergeschirre an, während Bielicki am Sicherungsseil schon den so vorbereiteten kleinen Zidan empfängt. Er setzt ihm einen Schutzhelm auf und demonstriert dem Jungen, indem er ihn frei am Seil schwingen lässt, wie sicher er aufgehoben ist. Jetzt wagt sich der Junge an den Aufstieg. Schafft er es, den bis zur Umlenkrolle abgeasteten Baum zu erklimmen, hat er eine Höhe von rund zehn Metern erreicht. Aber schon nach wenigen Schritten baumaufwärts verlässt Zidan der Mut. Unten wartet ungeduldig sein zwei Jahre älterer Bruder Zino auf seinen Einsatz. Mit Bielickis Ratschlägen, wie es am besten hochgeht, spurtet der Junge hinauf. Seine Kindergartenfreunde sitzen unten auf den vor dem Baum halbkreisförmig angeordneten Birkenholzblöcken und feuern ihn an. Zino lacht vor Freude, als er merkt, dass er schon hoch über dem Kopf des Försters ist. So viel Eifer zu erleben, das macht natürlich auch Bielicki Spaß. Nach und nach kommt nun jedes Kind mit Klettern an die Reihe. Eines aus der Gruppe traut sich tatsächlich bis zur Zehn-Meter-Marke hoch. 
 
Während hier noch geklettert wird, erhält die zweite Gruppe Kinder durch den staatlich zertifizierten Waldpädagogen Willi Bausch-Weis eine Einführung in die Kunst des Pirschens, damit kein knackendes Ästchen die Tiere des Waldes aufschreckt. Welche Tiere sind es, die im Wald leben? Um das zu erklären, hat das Forstamt-Team viele kleine und große Tiere - leider nur aus Holz gestaltete, zweidimensionale Attrappen - auf dem Pfad versteckt, auf dem Boden oder an den Bäumen. Sind sie entdeckt worden, sollen die Kinder sie bestimmen und die typischen Verhaltensweisen/Merkmale nennen. Schon rufen die ersten: „Ein Eichhörnchen!“ und zeigen auf die am Baumstamm haftende Figur. Erstaunlich, wie gut sich die Kinder mit den Waldtieren auskennen – offenbar Kindergarten sei Dank. Die katholische Kindertagesstätte St. Barbara legt Wert darauf, den ihnen anvertrauten Kleinen in allen vier Gruppen auch Inhalte aus dem Natur- und Umweltbildungsbereich zu vermitteln, sagt Ingrid Bernardy-Edelmann, eine der Erzieherinnen. Für den Eichelhäher brauchen die Kinder noch ein wenig Nachhilfe. Ich hätte ihn vermutlich gar nicht erkannt. Bausch-Weis erklärt, und das ist auch für mich neu, dass der Vogel ein Freund des Försters ist, weil er Eicheln vergräbt, wodurch neue Eichen im Wald heranwachsen.


Beim Fuchs kann der „Fuchs-Gruppe“ der KiTa natürlich niemand mehr etwas vormachen. Den kennen sie richtig gut. Den Restmüll durchsuchenden Marder halten sie erst einmal für einen Biber, aber den klopfenden Specht kennen sie wieder alle. Auf dem Pfad weiter vorangehend kommen sie noch an Wolf, Reh, Hase, Storch und etlichen anderen Tieren vorüber. Der Wolf gleicht eher einem Wildschwein, aber das ist ja jetzt egal. Die kleine Anne entdeckt sogar einen Uhu hoch oben am Baumstamm. Der Kuckuck dagegen war etwas schwer zu erkennen - da hat der Tiermaler seiner Kreativität schon wieder zu viel freien Lauf gelassen. Aber den Igel im Laubhaufen, den kann man nicht verwechseln. Dass die kleinen stacheligen Tiere nur hier und jetzt gestört werden dürfen, lernt die „Fuchs-Gruppe“ ebenso wie von der Gefahr, die mit Martins- und Osterfeuern für die Igel und andere Kleintiere einhergeht. Mit viel Geduld und hervorragend auf die Kinder eingehend gibt Bausch-Weis tierisch guten „Unterricht“ inmitten der Natur, die obenauf einen grandiosen Blick auf Burg Lahneck gewährt. 


Doch das sehen nur wir Erwachsenen. Die Kinder haben dafür kein Auge. Schön anzusehen ist auch das Forstamtsgebäude, ein weißes, langgezogenes Haus mit roten Klappläden und Schieferdach. Es handelt sich dabei um den als Kulturdenkmal ausgewiesenen Arnsteiner Hof, ein ehemaliges Kloster (erstmals erwähnt im 12. Jahrhundert), das bereits im Jahr 1869 zum Dienstsitz des damaligen Oberförsters umgebaut wurde.

Während ich mich noch in die Geschichte hineinversetze, stürmen die Kinder zur Abenteuer-Halbzeit in das Haus, um sich bei einer vom Forstamt angebotenen kleinen Zwischenmahlzeit für den zweiten Teil des Naturerlebnis-Tages zu stärken. Für mich gab es leider keine Stärkung. Musste dann zu Hause das Frühstück nachholen.